Menschen, die in Autos sitzen

MITFAHRGELEGENHEITEN  AKUT-Redakteurin Sophie verbringt viel Zeit in fremden Autos. Dabei stellte sie fest, wie viel sie durch ihre Mitfahrer über die deutsche Gesellschaft lernt und dass man auf der Autobahn auch empirische Forschung betreiben kann.

VON SOPHIE LEINS

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Ein sonniger Freitagvormittag. Ich stehe mit meinem Rucksack auf dem Parkplatz gegenüber dem Hauptbahnhof in Bonn und warte auf einen Unbekannten. Wie fast jedes Wochenende mache ich mich dank Fernbeziehung auf den Weg durch Deutschland. Von West nach Ost, von Nordrhein-Westfalen nach Thüringen. Und zwar nicht allein. Nicht mit Bahn oder Fernbus. Sondern mit der guten, alten Mitfahrgelegenheit (MFG).

Gut und alt? Alt auf jeden Fall, immerhin sind schon unsere Eltern mit Fahrgemeinschaften gefahren, die sie noch über Mitfahrzentralen oder Schwarze Bretter gefunden hatten. Mittlerweile gibt es die Mitfahrgelegenheit 2.0, über Plattformen im Internet vermittelt und bequem als App verfügbar. Aber gut? Ich gebe zu, auch ich hatte mich nach einer intensiven Mitfahrphase auf bequemere Verkehrsmittel verlegt. Dieser Redezwang, unseriöse Anbieter, die das Ganze als Geschäft betrieben, mit Neunsitzern immer die gleichen Strecken abfuhren und bei der Abfahrt plötzlich höhere Preise verlangten als abgemacht, schließlich die Gebühr, die das verbreitetste Mitfahrportal mitfahrgelegenheit.de plötzlich verlangte. Viele Gründe, die eine Bahncard 25 deutlich attraktiver erscheinen ließen als die MFG. Die Fahrgemeinschaft mit unbekannten Mitfahrern geriet für eine Weile in Vergessenheit. Doch seit ich mehrmals im Monat auf einer Strecke pendele, auf der die Sparpreise schnell vergriffen sind und man den Anschluss zu oft verpasst, tauchte das Mitfahren plötzlich wieder als Alternative auf. Also probierte ich sie noch einmal aus und entdeckte dabei einen neuen Reiz. Ich fahre nun mit gesellschaftswissenschaftlichem Forschungsinteresse.

Ein schwarzer Mercedes hält vor mir auf dem Parkplatz. Ein Mitfünfziger mit Geschäftsmann-Attributen steigt aus und gibt sich als Mike zu erkennen. Mit ihm bin ich hier verabredet. Nicht nur ich, sondern auch ein junger Mann aus Mali fährt mit. Er wird von einem Freund begleitet, weil er selbst kein Deutsch spricht. Wir packen unser Gepäck in den Kofferraum, die beiden Freunde verabschieden sich, und los geht’s auf eine gemeinsame Fahrt durch Deutschland.

Mittlerweile habe ich in diesem Semester schon ca. 3.000 km innerhalb Deutschlands in Mitfahrgelegenheiten zurückgelegt. Und auf manchen Fahrten habe ich dabei mehr Unerwartetes über unsere Gesellschaft erfahren als in einigen meiner Soziologie- und Politikwissenschaftsseminare. Sieht man in den Beifahrern nämlich zufällig zusammengestellte Repräsentanten der Gesellschaft, dann sind die Fahrten quasi-empirische Studien zu sozialen Milieus, politischen Einstellungen, Generationenunterschieden und den unterschiedlichen Lebensumständen in Ost- und Westdeutschland.

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Während des Studiums verbringen Studierende den Großteil ihres Alltags in ihrer Uni-Blase. Man bewegt sich im akademischen Milieu und verbringt viel Zeit mit Gleichaltrigen, die oft aus ähnlichen Verhältnissen kommen, ähnliche Ansichten und ähnliche Zukunftsperspektiven haben. In Mitfahrgelegenheiten trifft man dagegen auf Menschen mit völlig anderen Hintergründen und Lebensmodellen. Menschen, die man sonst niemals treffen und wahrscheinlich auch nicht immer unbedingt kennenlernen wollen würde. Sie sind aber eben Teil der deutschen Gesellschaft und ihrer sozialen Phänomene, über die wir Sozialwissenschaftler in unserem Studium ja gerne mehr erfahren möchten. Und auf einer dreistündigen Fahrt hat man – wenn man es so nennen will – die Gelegenheit zu ausführlichen Interviews.

Auf den Fahrten habe ich Menschen getroffen, die seit Jahren jedes Wochenende zwischen Job und Familie quer durch Deutschland pendeln, weil sie in Sachsen keine Arbeit finden. Ich habe die Einwanderungsgeschichte der kasachischen Eltern eines Fahrers gehört, deren gelungene Integration sich nicht nur im teuren Wagen ihres Sohnes manifestierte. Und ich kann mir nach kontroversen politischen Diskussionen zwischen Fahrersitz und Rückbank besser vorstellen, was das für Leute sind, die die AfD wählen. (Und wie es ausgeht, wenn diese mit einem patriotischen Griechen auf dem Beifahrersitz die Euro-Krise diskutieren.)

Arbeitsmarkt, Familie, Migration und Integration, Parteipräferenzen und politische Einstellungen – klassische gesellschaftswissenschaftliche Themen. Man könnte auch sagen, die Erkenntnisse aus den Fahrten ergänzen die Theorie, die ich an der Uni lerne.

Wir sind am Zwischenziel angekommen. Wir Mitfahrer steigen hier aus. Unser Fahrer Mike hat noch zwei Stunden vor sich. Auf der Fahrt habe ich erfahren, dass auch er einer der Westpendler ist, der jedes Wochenende von Bonn nach Chemnitz zu seiner Frau fährt. Nachdem er seine Arbeit verloren hatte, ging es nicht mehr anders. Jetzt hofft er, dass er bald wieder eine Stelle in seiner Region findet, damit er seine Familie häufiger sieht als deutsche Autobahnen. Solange fährt er wöchentlich seine MFGs und hält den Mitfahrern Vorträge über die Themen, die ihn bewegen: Benzinpreise, Billigflüge und sein Navigationsgerät.

Der Mitfahrer aus Mali stellt sich als Flüchtling heraus. Auf Französisch erzählt er, dass er auf dem Weg zu seinem Bruder ist, der in einer Unterkunft in Thüringen lebt. Am nächsten Wochenende werde ich ihn auf dem Parkplatz am Bonner Bahnhof wiedertreffen und wir werden uns beide mit einem anderen Fahrer auf in Richtung Osten machen.

Natürlich weiß ich, dass nicht jede Erkenntnis gleich Wissenschaft ist und Forschung vielen Standards genügen muss. Die Gespräche während der Autofahrten sind nicht repräsentativ, da sich nur bestimmte Gruppen zu einer Fahrt mit Fremden entscheiden. Auch moralischen Forschungsstandards genügen meine »Interviews« nicht, denn die Probanden wissen ja nicht, dass sie Gegenstand meiner privaten Studien sind. Und natürlich sind auch viele Fahrten einfach langweilig – wenn man sich gar nicht unterhält oder bloß über das Wetter. Aber allen, die sich für unsere Gesellschaft interessieren, sie vielleicht sogar studieren und sich manchmal fragen, was das Studium mit der Realität zu tun hat, denen kann ich nur empfehlen, sich mit MFGs auf Reisen zu machen. Denn manchmal liegt die Einsicht nicht am Wegesrand, sondern auf der Autobahn.

 

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