Über den moralischen Zeigefinger älterer Generationen
Werte sind der Charakter einer Gesellschaft. Sie regeln das moralische Miteinander. Und das schon seit Jahrtausenden. Allerdings werden immer wieder Stimmen laut, es gebe einen Werteverfall. Doch müsste der nicht schon längst eingetreten sein? Oder ist schon passiert, was niemand bemerkt hat?
Wir Deutschen werden allgemein mit bestimmten Werten in Verbindung gebracht: Perfektion, Ordnung, Zuverlässigkeit, Treue, Tatkraft, Fleiß, Genauigkeit… Die Liste ist lang. Doch treffen diese Tugenden noch immer auf uns zu? Sind sie das, was unsere Gesellschaft ausmacht? Eine Frage ist, wo unsere Werte überhaupt herkommen. Da wären zum einen die zehn Gebote aus der Bibel. Eine Regelschrift, die über 2000 Jahre alt ist. Das Zwischenmenschliche hat sich zwar wenig verändert, doch das Konzept der Ehe ist nicht mehr das, was es mal war. Seit den 1990er Jahren wird jede dritte Ehe geschieden, schreibt der Spiegel im Sommer 2013. Macht ein Gebot über den Ehebruch also noch Sinn? Das Gebot des Ruhetags ist ebenfalls schwierig für den fleißigen Studierenden von heute. Hausarbeiten, Praktikumsbewerbungen und Abschlussarbeiten schreiben sich nicht von allein. Wann soll da geruht werden. Wird der Ruhende nicht überrannt?
Auch wenn immer weniger Kinder getauft werden und immer mehr Erwachsene aus ihrer Kirche austreten, spielen Glaubensgemeinschaften weiterhin eine bedeutende Rolle. Ein Hauptargument für Religionen ist, dass Menschen tugendhafter sind, wenn sie denken, sie würden überwacht. Das allsehende Auge Gottes könnte also als wirksamste Leistungsüberwachung der Geschichte aufgefasst werden.
In der Gegenwart wird die spirituelle Größe durch die allseits präsenten Massenmedien ersetzt. Die Facebook-Gemeinde überwacht jeden Schritt, frei nach dem Motto: Big Brother is watching you.
Vor allem in der Arbeitswelt beklagt die Allgemeinheit den Werteverfall. Eine Focus-Umfrage von 2009 hat ergeben, dass mehr Menschen als jemals zuvor Arbeit nur noch als notwendiges Übel ansehen. Arbeiten lohnt sich nicht mehr. Gleichzeitig erhöht sich der Druck auf Berufsanfänger, Auszubildende und Studierende. Wie lässt sich der beklagte Werteverfall mit dem tüchtigen Bestreben der Generation Praktikum vereinen? Nie gab es so viele verschiedene Studiengänge und nie hatten mehr Menschen trotz Hochschulabschluss Angst, keinen passenden Job zu finden.
Ein Werteverfall wird zwar seit Jahrzehnten kritisiert, allerdings erleben die klassischen Werte und Tugenden aktuell einen nie da gewesenen Aufschwung. Die Jugend reagiert auf den erhobenen Zeigefinger der älteren Generation. „Die Welt“ hat 2010 eine Umfrage unter 12- bis 25-Jährigen veröffentlicht, die belegt, dass Jugendliche leistungsbereiter sind als noch vor 20 Jahren. Vor allem ihr Werteverständnis ist viel größer als bisher angenommen. Fleiß, Ehrgeiz, Eigenverantwortung und das Streben nach einem hohen Lebensstandard stehen für junge Menschen heutzutage an oberster Stelle.
Die Diskussion über den Werteverfall unserer Gesellschaft ist also nicht neu, aber so aktuell wie nie. Und sie wird es bleiben.