(K)ein Kommentar
Über dem Kölner Südbahnhof kreisen die Geier, denn sie riechen die Verzweiflung der Pendler: Ich stehe am Gleis 1 und durch die Kopfhörer läuft „The Hellbound Train“ von Those Poor Basterds, der Regionalexpress hat an diesem Montag mal wieder Verspätung und die einfahrende Regionalbahn 48 ist überfüllter als eine U-Bahn in Tokio. … He blowed the whistle and rung the bell / And the devil says „Boys, the next stop is hell!“ / And all of the passengers yelled with pain / And begged the devil to stop the train …
All diejenigen unter euch, die ebenfalls nach Bonn pendeln, sei es von Köln aus oder von sonstwo, werden das Drama kennen: Die meisten Züge haben Verspätung und wenn sich doch mal einer von ihnen zu einer Haltestelle verirrt, scheint er vor stickiger Luft, verschwitzten Leibern, Grundschülern und Gewaltpotential zu platzen. Nimm einen letzten Mutschluck aus dem Flachmann, fahr die Ellenbogen aus, küsse deine Kinder “Goodbye“ und wirf dich ins Getümmel. Da stehst du dann zunächst einmal nach Luft ringend und eingequetscht zwischen schlecht gelaunten Linksaufstehern und wenn du Glück hast, geht die Fahrt schnell vorbei, doch meistens hat man Pech. Denn um andere Züge vorzulassen, wird die Fahrt immer wieder unterbrochen und die Menschen werden noch genervter und gereizter – Tod und Elend in der RB 48.
Mit einer Stimme, die über die Lautsprecher klingt, wie irgendetwas zwischen einem Funkspruch in den Schützengräben Verduns und Darth Vader, verkündet der Zugführer an diesem Tag, dass „sich die Weiterfahrt aufgrund einer Überholung durch einen verspäteten Zug um einige Minuten verzögern wird“. Wüste Flüche und Schimpftiraden aus den Waggons sind die Antwort. Der arme Mann muss sich fühlen wie Will Bligh, denke ich, Leutnant der legendären Bounty, die er bei einer Meuterei an die Denunzianten verlor, welche ihn daraufhin in einem Beiboot auf dem Südpazifik aussetzten und zum Teufel schickten. Bligh überlebte zwar, aber werden wir heute Morgen genauso viel Glück haben wie er? Was dann nämlich an Bord der Regionalbahn passiert, lässt sich kaum in Worte fassen: „Es war grauenvoll“, soll später ein traumatisierter Fahrgast zu Protokoll geben, der noch einmal mit dem Schrecken davon gekommen ist. Im ausgebrannten und demolierten Wrack werden Bergungstruppen später das Logbuch des Zugführers finden, aus dem ich, Gott sei seiner Seele gnädig, nun zitieren möchte: >>Station 1: Die Stimmung an Bord wird zunehmend gereizter. Die Menschen, die eng aneinandergedrückt werden, scheinen durch den beißenden Schweißgestank, der die Gesichtszüge entgleisen lässt und sich tief in die Großhirnrinde brennt, langsam kirre zu werden und auch das Zugpersonal wird zunehmend nervöser. … Ich hoffe nur, wir haben noch genügend Orangen gelagert. Station 2: Langsam befürchte ich, dass wir niemals im Bonner Hauptbahnhof einlaufen werden! Der erste Schaffner ist an Skorbut erkrankt und der Rest ist durch die täglichen Anfeindungen der ausgemergelten und aggressiven Fahrgäste bereits fast vollständig demoralisiert. Ich muss mir etwas einfallen lassen; sonst – beim allmächtigen Herrn – sind wir alle verloren! Station 3: Wie schmerzlich vermisse ich meine Frau und meine Kinder, ich hoffe sehnlichst, sie bald wieder zu sehen, falls wir diese Hölle überstehen. Bei der letzten Station wollte sich eine Frau mit Fahrrad in das überfüllte Fahrzeug drängeln – nur der beherzte Einsatz von Tasern und Pfefferspray konnte den erzürnten Lynchmob von Passagieren davon abhalten, sie bei voller Fahrt durch die notgeöffnete Ein- und Ausstiegsluke gehen zu lassen. Ich habe schon ganz vergessen, wie es ist, frische, unverbrauchte Luft in meinen Lungen spüren … das Festland, das Festland, es fehlt mir so sehr! Station 4: Wir fahren unter schwarzer Flagge! Ich habe mich in der Fahrerkabine verbarrikadiert, die Türe zugenagelt, als sie versucht haben, sie einzutreten. Von draußen dringen Geräusche zu mir durch, die mich nachts nicht schlafen lassen. Schüsse fallen, ich kann sie gedämpft hören, Fingernägel kratzen an der Türe meiner Kabine, die mir nun als Panic Room dient. Meine Konserven gehen zur Neige und wenn ich aus dem Fenster meines Führerstandes schaue, sehe ich dicken schwarzen Qualm aus dem Fahrzeug in die rußige Morgenluft steigen<<. Ich werde im Stehen (man fällt zwischen so vielen Menschen schließlich nicht um) von einer vertrauten Stimme aus meinen fieberhaften Albträumen geweckt: Es ist wieder Darth Vader, der diesmal über die Lautsprecher verkündet, dass wir in Kürze den Bonner Hauptbahnhof erreichen werden. Als es endlich soweit ist und sich die Türen des Zuges öffnen, strömen mir Sonnenstrahlen und Böen frischer Luft entgegen und ich sinke auf die Knie für ein Dankgebet – das Festland, das Festland, es fehlte mir so!