BAUPROJEKT BEERDIGT Der Bonner Stadtrat hat sich dem Bürgerbegehren gegen das Einkaufszentrum angeschlossen und eine Bürgerbeteiligung zur weiteren Gestaltung des Viertels einberufen. Jetzt beginnen die Diskussionen: Was wird aus dem Viktoriakarree?
VON ANNIG HELD
»Mehr Wohnraum und eine Kita!«, fordert der Eine, während die Nächste von einem Club im ehemaligen Viktoriabad träumt: »Das wäre cool.« Wieder ein Anderer plädiert für eine Markthalle – oder doch lieber ein großes Kulturveranstaltungszentrum für Jung und Alt? »Hauptsache nicht noch ein Friseur«, resümiert der Letzte und eine Stimme witzelt, dass sich das Grundstück doch eigentlich ganz gut für ein Einkaufszentrum anbiete.
Die erfolgreiche Verhinderung der Shoppingmall bildet schließlich den Ausgangspunkt für die Diskussion um die Zukunft des Viktoriaviertels: dem seit letztem Sommer stark umstrittenen Gebiet zwischen Rathausgasse, Franziskanerstraße, Stockenstraße und Belderberg. Hatte der Bonner Stadtrat im Juni noch mit mehrheitlichem Beschluss für den Verkauf der städtischen Flächen an eine Tochtergesellschaft der SIGNA votiert, zeigte sich nun in einer Sondersitzung am 30. November eine kaum noch für möglich gehaltene Kehrtwende im Geschehen. Mit der knappen Mehrheit von 42 zu 41 Stimmen wurde das Bürgerbegehren gegen das Projekt bewilligt, das zuvor mit 16.414 gültigen Unterschriften die Entscheidung des Rats angezweifelt hatte (s. AKUT Nr. 339).
Das monatelange Tauziehen um das Gelände hat damit ein Ende. Es wird keinen Bürgerentscheid mehr geben, stattdessen steht fest: Das Areal wird nicht an den Investor verkauft. Zusätzlich folgte der Rat dem SPD-Antrag nach »eine(r) Bürgerbeteiligung in Form einer Bürgerwerkstatt« zur weiteren Gestaltung des Geländes. Ihre Ergebnisse sollen anschließend in einem »nicht-vorhabenbezogenen Bebauungsplan« berücksichtigt werden – so die Pressemitteilung der Stadt Bonn. Das schließt jegliche Zusammenarbeit mit einem Investor und bereits anvisierten Plänen aus.
Tabula Rasa also im Viertel, alle Zeiger stehen wieder auf Null. Doch beginnen sie bereits zu ticken und einen neuen Prozess in Gang zu setzen. Das Grundstück erstreckt sich plötzlich fast mystisch neben der Uni und fragt: Was geschieht mit mir? Verändere ich mich, wie verändere ich mich, muss ich mich überhaupt verändern?
Da winkt das Schwimmbad und lädt ein in seine goldenen Hallen. »Schau, was sich aus mir machen lässt«, sagt es, indessen sich gegenüber die große Pforte eines Cafés öffnet und den Eintritt in ungeahnte Welten verspricht.
Das Viktoriaviertel als Wunderland: Hängt diese Metapher wirklich mit dem Wort der »Bürgerbeteiligung« zusammen? Ist es ein Synonym für die Akkumulation hanebüchener Phantasien, die niemals zu einer konkreten Umsetzung gelangen? So zumindest formulieren es Gegner des Konzepts, die bereits einen ›Dornröschenschlaf‹ für das Viertel voraussagen. Dabei verweisen sie auf die Bürgerwerkstatt von 2005 zur Neugestaltung des Bonner Bahnhofsvorplatzes, deren Ideen letztendlich nie realisiert wurden.
Seitdem hat sich jedoch einiges getan. Bonn scheint zu einer Art Vorreiter in Sachen Bürgerbeteiligung avanciert zu sein – oder möchte es gerne sein: 2009 richtete die Stadt einen Ausschuss und eine Projektstelle zu dem Sujet ein; seit 2011 werden Einzelkonzepte durchgeführt. Dirk Lahmann, Ansprechpartner für Bürgerbeteiligung bei der Stadt Bonn, hat eine Präsentation zum Thema erstellt, die sich im Internet einsehen lässt. Darin erklärt er: »Bürgerbeteiligung ist in Bonn der Oberbegriff für alle Maßnahmen und Initiativen, die eine aktive Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger ermöglichen sollen.«
2014 hat Bonn dafür als eine der ersten Städte überhaupt Leitlinien für die Form der Bürgerbeteiligung beschlossen. Diese fordern vor allem die frühzeitige Einbindung und das Mitspracherecht der Bonner Bürger sowie transparente Gestaltung und Ergebnisoffenheit im Partizipationsprozess. Kriterien, deren Umsetzung im Geschehen rund um das Viktoriaviertel bisher noch fragwürdig erscheinen.
Die Bürgerbeteiligung für das Viertel steckt jedenfalls noch ganz in ihren Anfängen. Ideen gäbe es bereits, sagt Lahmann, die konkrete Ausarbeitung geschehe aber erst in den nächsten Wochen.
Dass sie tatsächlich erfolgt und Bonn seiner Rolle als Musterkommune für Bürgerbeteiligung gerecht wird, darauf möchte die »Viva Viktoria!«- Initiative achten. Sie war es, die das Bürgerbegehren anmeldete, wöchentliche Demos organisierte und letztendlich fast 20.000 Unterschriften gegen das Einkaufszentrum sammelte. Motiviert durch ihren Erfolg, sieht sich die Gruppe auch jetzt in der Mitverantwortung, die Bürger in den weiteren Gestaltungsprozess des Viertels einzubinden. So präsentierten ihre Mitglieder gleich ein paar Tage nach dem Ratsbeschluss ein erstes Konzept zur Umsetzung der Bürgerbeteiligung: entwickelt von Politikwissenschaftlern und Architekten und bereits der Stadtverwaltung als Diskussionsgrundlage vorgelegt. Denn ideal, so findet die Initiative, wäre eine Zusammenarbeit zwischen Stadt und »Viva Viktoria!«. Um diese auf Augenhöhe gestalten zu können, möchte »Viva Viktoria!« nicht lediglich von der Finanzierung der Stadt abhängig sein, sondern durch Crowdfunding eine Co-Finanzierung aufstellen. Damit könne man bereits auf dieser Ebene eine Beteiligung der Bürger schaffen, die kleine eigenständige Projekte sowie eine schnellere Handlungsdurchführung ermögliche.
Ziel des »Viva Viktoria!«-Konzeptes ist ein ganz bestimmtes: der Masterplan. Mit ihm rechnet die Gruppe bereits im nächsten Sommer. Zuvor aber werden drei Phasen durchlaufen, nämlich die der Information, der Ideensammlung und der Konkretisierung. In ihnen soll es sowohl öffentliche Veranstaltungen als auch eine Online-Plattform geben, die es allen interessierten Bürgern ermöglicht, aktiv Ideen einzubringen und sich im gegenseitigen Austausch an der Gestaltung zu beteiligen. Axel Bergfeld, Vertretungsberechtigter von »Viva Viktoria!«, ist es dabei zum einen wichtig, die 2014 aufgestellten Leitlinien zur Bürgerbeteiligung auf ihre praktische Umsetzbarkeit zu prüfen. Zum anderen geht es ihm aber auch um Fortschritt. Die Bürgerbeteiligung soll zu realistischen Ergebnissen gelangen, die anschließend im Bebauungsplanverfahren schrittweise umgesetzt werden können. Auf die Frage, wie Bergfeld selbst sich den Masterplan für das Viktoriaviertel wünscht, antwortet er: »Wir haben keine Vorstellung, es geht uns gerade um Ergebnisoffenheit. Statt des Einkaufszentrums wäre aber eine kleinteilige und individuelle Einzelhandelsentwicklung denkbar, bei der die alteingesessenen Institutionen erhalten bleiben können.«
Ob sich die Stadt auf den Konzeptvorschlag sowie eine generelle Zusammenarbeit mit »Viva Viktoria« einlässt, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. Der erste konkrete Schritt der Initiative soll nun zunächst ein Info-Container an einem öffentlichen Platz sein. Ab Januar können sich die Bürger in ihm über das Viktoriaviertel und seine Möglichkeiten erkundigen, bevor es zur Phase des Ideenaustausches kommt.
Zwar lässt sich zu diesem Zeitpunkt weder Erfolg noch Niederlage der Bürgerbeteiligung für das Viktoriaviertel voraussagen. Trotzdem verspricht das Projekt, spannend zu werden. Schließlich vereint es Menschen in einem gemeinsamen Vorhaben und bietet ihnen die Möglichkeit eines direkten Mitgestaltens an kommunalpolitischen Prozessen. »Partizipation gehört zu den zentralen Grundlagen von Demokratie«, heißt es in Lahmanns Präsentation. Damit sagt er nicht zuletzt das aus, was das Bürgerbegehren gerade geschafft hat: Dass die Bewohner Bonns mit viel Engagement und Willenskraft Veränderungen in Politik und Verwaltung schaffen können. Vielleicht bleibt das Viertel wie es ist – eigen und nicht von jedem geliebt. Vielleicht erfährt es aber auch seine persönliche Aschenputtel-Geschichte und gelangt zu ganz neuer Schönheit. ◄