Kommentar: An Aging Europe in Decline? Nein, danke!

Von Varvara Stegarescu

Karikatur_Florian_BB Kopie

„Kümmer dich nicht drum, die Alte macht’s eh nicht mehr lange!“

 

„I’ve fallen and can’t get up” – mit diesem Satz fasste Arthur C. Brooks, Präsident des American Enterprise Institute, den aktuellen Zustand Europas zusammen. Die verheerende Diagnose wurde dem kranken Patienten Europa in einem Zeitungsartikel der New York Times (vom 7. Januar 2015) ausführlich erläutert. Nach einer scharfen und sehr reflektierten Analyse gab es für den amerikanischen Autor keine Zweifel: Wir hätten mit “an aging Europe in decline“ zu tun.

Die Probleme Europas seien in erster Linie demografischer Natur, so Arthur C. Brooks. Der durchschnittliche Europäer wird älter. Gleichzeitig werden immer weniger Kinder geboren. Nichtsdestotrotz: auch wenn wir demnächst in einer Welt leben würden, in der viele Menschen keine Geschwister, Cousinen, Tanten oder Onkel hätten, regt uns der Autor an, auf die Sonnenseite der Geschichte zu schauen: Wenigstens wird man zu Weihnachten weniger Geschenke kaufen müssen. Aus der Sicht Arthur C. Brooks wird Europa neben den demografischen Problemen mit einer besorgniserregenden Beschäftigungslage konfrontiert. Nur 57,7 Prozent der Europäer waren 2013 beschäftigt oder suchten eine Arbeit im Vergleich zu 62,7 stolze Prozent der Amerikaner. Der alte Kontinent wird gleichzeitig von fremdenfeindlichen Bewegungen geplagt. So wurde der Amerikaner bei der Beschreibung der Anti-Migranten-Ressentiments der Europäer dazu gebracht, Europa mit einem aufgebrachten Opa zu vergleichen, der Eindringlinge mit seiner Krücke bedroht und anschreit, damit sie sein Privateigentum verlassen – kein schönes Bild nebenbei bemerkt. Zum Schluss fasste der Autor zusammen: Ein Land oder ein Kontinent ist vom Niedergang bedroht, ”if it rejects the culture of family, turns its back on work, and closes itself to strivers from the outside“. An aging Europe in decline, also?

Ein befreundeter Zeitverfolger machte mich darauf aufmerksam, dass Arthur C. Brooks mit seiner Diagnose keineswegs Unrecht hat. Mein Protest, bei dem ich leistungsstarke Kommilitoninnen und Kommilitonen sowie Dozentinnen und Dozenten erwähnt habe, bei dem ich meine positiven Erfahrungen als Osteuropäerin in Deutschland betont habe, bei dem ich meine Bewunderung für die Leistungsbereitschaft derjenigen, mit denen ich im FSJ, als Studentin oder Praktikantin zusammengearbeitet habe, überzeugte nicht. Mein Gesprächspartner ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: „Ja, aber wen kennst du denn? Du kennst nur Studierende und Akademiker. Die Realität sieht aber anders aus.“ Möglicherweise – erwiderte ich, nichtsdestotrotz wurden schon immer die meisten Errungenschaften menschlicher Zivilisation von einer begrenzten Anzahl von Personen vorangetrieben. Von denjenigen, die nicht aufgeben wollen und nicht bereit sind, vermeintliche Grenzen zu akzeptieren, bevor man überhaupt versucht hat, nach Lösungen zu suchen. Nach mehreren Jahren Finanz-, Schulden- und Wirtschaftskrise in Europa, wird die heranwachsende Generation schon als „verlorene“ Generation gesprochen, von der Generation, die die Schuldenberge der EU-Staaten auf die Schulter tragen wird. Es ist von jungen Europäerinnen und Europäer die Rede, die vielleicht die letzten Atemzüge eines friedlichen Europas erleben und den zunehmenden Bedeutungsverlust Europas in der Welt achselzuckend hinnehmen werden.

Dass es momentan in Europa und auf der ganzen Welt unzählige Probleme und Herausforderungen gibt, ist keine Frage. Fraglich ist nur, warum reden alle so darüber, als ob bereits alles Mögliche versucht und getan worden wäre, damit Fortuna unser Europa noch mal anlächelt? Warum wird eine Generation für „verloren“ erklärt und dazu verdammt, in einem „aging Europe in decline“ zu leben, bevor wir überhaupt zu der Reife gelangt sind, bei der man sich den eigenen Möglichkeiten und Grenzen bewusst wird, und Verantwortung für das eigene Schicksal übernehmen kann? Und vor allem gedenkt man im Ernst, den jungen Heranwachsenden bereits den Stempel der Verweigerung, Familien zu gründen, in die Hände zu drücken? Gibt es Anhaltspunkte, zu behaupten, dass unsere Generation, die sich durch unbezahlte Praktika einen Platz in der heutigen Arbeitswelt sucht, keine leistungsstarken Arbeitnehmer oder Unternehmer hervorrufen wird? Ist das eine ernste Behauptung, dass gerade für unsere Generation, die das höchste Ausmaß an Mobilität in der Menschheitsgeschichte genießen darf, Fremdenfeindlichkeit eine Option darstellt?

Scharfe und sehr reflektierte Analyse beiseite, ich kann und werde dem Standpunkt von Arthur C. Brooks  nicht zustimmen. Dabei verfüge ich weder über die „besseren“ Argumente noch über die „besseren“ Erfahrungen. Ich verfüge lediglich über eine andere Perspektive auf die Zukunft Europas, auf unsere Zukunft. Für uns ist „an aging Europe in decline“ keine Option. Dafür haben die letzten Generationen bereits wichtige gesellschaftliche Konventionen durchbrochen und somit für uns andere Entwicklungschancen geschaffen, die es bisher in der Menschheitsgeschichte nicht gegeben hat.
Wie bereits erwähnt, bin ich mir bewusst, dass es momentan in Europa und auf der ganzen Welt unzählige Herausforderungen gibt, mit denen wir fertig werden müssen. Solange es aber wenigstens eine Handvoll Personen unserer Generation gibt, die sich den Herausforderungen unserer Zeit stellt, mache ich mir für dieses Europa keine Sorgen. Diese Handvoll Menschen gibt es bereits, und es hat sie in der Vergangenheit schon immer gegeben.

Varvara Stegarescu studiert Politik und Gesellschaft. Trotz aktueller Herausforderungen bleibt sie Optimistin.

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