WG besucht!

Wir besuchen eine Dreier-WG im renovierten Altbau in der Südstadt. Paula, Pina und Fabian sind 21 und studieren Psychologie, Germanistik, Politik und Gesellschaft. Die beiden letzteren sind ein Paar, seit einem Jahr macht Paula die gemütliche »Tatort-und-Pizza-WG« komplett.

VON SOPHIE LEINS

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Woher kommt ihr?
PA  Ich komme aus Rheine im Münsterland.
PI  Wir beide kommen aus Hamburg.

Seid ihr die typische »Sponsored-By-Daddy-WG«?
PI  Ja, das waren wir, aber seit diesem Sommer stehen wir sozusagen alle in »Lohn und Brot«. Wir arbeiten alle drei neben dem Studium.

Wie viel Miete bezahlt ihr?
PA  Ich zahle am meisten – 360€.
PI  Wir beide zahlen je 320€, aber wir teilen uns auch ein Zimmer.
F  Und wir alle teilen uns das Wohnzimmer, Küche und Bad.

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Was unterscheidet euch von anderen WGs?
F  Wir sind jung, reich und schön.
PI  Viele WGs sagen ja, dass sie viel miteinander unternehmen, aber ich finde, wir machen wirklich sehr viel miteinander.
PA  Und wir kennen auch richtig viele Leute aus dem Leben der anderen, auch die Familien.

Habt ihr ein WG-Ritual?
F  Pizza kaufen. Tatort schauen. Schnauze halten.
PI  Und das jeden Sonntagabend.

Was war bisher euer schönstes WG-Erlebnis?
F  Unsere Party. Die war pornös.
PI  Wir haben eine »Porno-Party« im Geiste unserer großen Vorbilder Jan Böhmermann und Olli Schulz gemacht. Wir haben die ganze Wohnung mit Erotik-Zeitschriften dekoriert, die wir mit ausgeschnittenen Köpfen der eingeladenen Freunde verziert haben.PA  Und wir machen schöne Ausflüge!

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Was nervt an den anderen?
PA  An Fabian nervt, dass er lange das Bad blockiert. Und sein Flaschenpfand, das er nie wegbringt. Wenn Pina und ich dann die Flaschen in riesigen IKEA-Taschen abtransportieren, werden wir echt doof angeschaut.
PI  Und Paula lernt laut, das nervt auch.

Wenn ihr eurer WG einen Namen geben müsstet, wir würdet ihr sie nennen?
F  »Flotter Dreier«.

Mit dem Pflugsimulator aufs Feld

AUSSTELLUNG  Die Ausstellung »Revolution jungSteinzeit« im LVR-Landesmuseum zeigt bis April Fundstücke aus der Zeit, in der die Menschen sesshaft wurden. Auch im Rheinland finden sich noch heute Spuren aus der Jungsteinzeit. Wie lebten die Menschen damals?

VON MAIKE WALBROEL

(Foto: Maike Walbroel / AKUT)

(Foto: Maike Walbroel / AKUT)

In der Colmantstraße bekommt man eine ungefähre Ahnung davon, wie jungsteinzeitliche Behausungen aussahen. Gebaut wurde natürlich mit Holz, die Häuser waren teilweise über 60 Meter lang und hatten eine Wohnfläche von 100 bis 350 Quadratmetern. Für die ca. zehn Bewohner war also reichlich Platz vorhanden. Damit es im Inneren nicht kalt oder nass wurde, »verputzten« die Menschen ihre Wände mit Lehm und dichteten die Dächer ab, die meist mit Holz, Rinde oder auch Getreide gedeckt waren. Der Rohbau eines solchen Langhauses steht derzeit vor dem Museumsgebäude.

Zum Überleben brauchte es allerdings auch damals schon mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Energie musste her und zwar in Form von Nahrung. Wer nun an karge Kost in Form von Nüssen, Beeren und Wurzeln denkt, irrt gewaltig: Gerste, Honig, Brot, Pilze, Fenchel, Sellerie, Linsen, Erbsen, Brombeeren, Erdbeeren, Vogeleier und Salz sind nur einige Beispiele für Nahrungsmittel, die es damals schon gab. Dieser Speiseplan ist natürlich noch nicht vollständig – Fleisch, aber auch Milcherzeugnisse gehörten vor 7000 bis 5000 Jahren schon dazu.

Anstatt weiterhin zu jagen, wurden Tiere domestiziert und versorgten die Menschen mit Milch, Trockenkäse und –quark, aber auch mit Fleisch. Das eigene Vieh war allerdings recht wertvoll und nicht in erster Linie als Fleischlieferant gedacht.

Beim Ackerbau konnten Ochsen helfen – z.B. vor einem Pflug. Dass Pflügen mehr ist, als hinter einem Tier herzulaufen, das schweres Gerät über das Feld zieht, kann man selbst ausprobieren: Mit dem Pflugsimulator im Museum. Während man den Pflug mühsam in die Erde drückt, bewegt sich auf einem Bildschirm ein Ochse über das Feld – jede Unsicherheit quittiert er mit einem Muhen. Am Ende gibt es eine Rückmeldung über die eigenen Fähigkeiten als Ackerbauer.

Gejagt und gefischt wurde natürlich weiterhin – mit Waffen. Diese herzustellen war recht langwierig: Jede Speer- oder Pfeilspitze musste von Hand auf einem Schleifstein bearbeitet werden – auch das können die Besucher des LVR-Museums versuchen. Von der Steinzeit spricht man übrigens, weil archäologische Funde aus dieser Zeit vor allem aus Stein sind

Die harte tägliche Arbeit ging nicht spurlos an den Menschen vorbei: Manche bekamen von ständigen Erkältungen chronische Entzündungen, andere brachen sich bei der Arbeit den Arm. Heute wäre das alles leicht zu behandeln – in der Jungsteinzeit aber wussten die Menschen meist nicht einmal, was genau ihre Schmerzen auslöste. Einen Eindruck davon gewinnt man, wenn man am sogenannten »Schicksalsrad« dreht: Das Rad bleibt bei einer Person stehen und diese erzählt ihr persönliches Schicksal – von der schweren Arbeit und ihren körperlichen Beschwerden. Unwetter, Dürre oder Schädlingsbefall konnten ebenso wenig beeinflusst werden wie die eigene Gesundheit. Waren die Menschen krank oder ihre Ernte verdorben, so konnte dies das Ende einer Sippe bedeuten.

Eine Revolution im herkömmlichen Sinne gab es in der Steinzeit nicht, aber mit den Erfindungen – u.a. dem Rad – und den neuen Behausungen brachen die Menschen vor ca. 7000 Jahren mit ihrem bisherigen Leben als Jäger und Sammler. Die moderne Zivilisation entstand, in der mehrere Menschen in festen Häusern als Dorfgemeinschaften zusammen leben, ihre Nahrung selbst anbauen, Vieh halten und aktiv Einfluss auf die Natur nehmen. Der Titel der Ausstellung ist somit leicht irreführend. Im Museum finden sich neben Steinen und Scherben aber auch originalgetreue Nachbauten von Alltagswerkzeugen und Gebrauchsgegenständen. Der Schwerpunkt liegt auf Fundstücken der großen Ausgrabung einer Siedlung in Köln-Lindenthal Anfang des vorigen Jahrhunderts. Ausgestellt sind Tonscherben, aber auch Originalfotos von den Grabungen und ein Lageplan des steinzeitlichen Dorfes.Aus der Jungsteinzeit bleiben uns nicht nur tote Steine, sondern auch wichtige Erfindungen. Wer erfahren möchte, wo unser modernes Leben in seiner Grundform herkommt, der kann dies bei einem Besuch im LVR LandesMuseum Bonn erfahren. Der Eintritt ist für Bonner Studierende übrigens frei.

Menschen, die in Autos sitzen

MITFAHRGELEGENHEITEN  AKUT-Redakteurin Sophie verbringt viel Zeit in fremden Autos. Dabei stellte sie fest, wie viel sie durch ihre Mitfahrer über die deutsche Gesellschaft lernt und dass man auf der Autobahn auch empirische Forschung betreiben kann.

VON SOPHIE LEINS

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Ein sonniger Freitagvormittag. Ich stehe mit meinem Rucksack auf dem Parkplatz gegenüber dem Hauptbahnhof in Bonn und warte auf einen Unbekannten. Wie fast jedes Wochenende mache ich mich dank Fernbeziehung auf den Weg durch Deutschland. Von West nach Ost, von Nordrhein-Westfalen nach Thüringen. Und zwar nicht allein. Nicht mit Bahn oder Fernbus. Sondern mit der guten, alten Mitfahrgelegenheit (MFG).

Gut und alt? Alt auf jeden Fall, immerhin sind schon unsere Eltern mit Fahrgemeinschaften gefahren, die sie noch über Mitfahrzentralen oder Schwarze Bretter gefunden hatten. Mittlerweile gibt es die Mitfahrgelegenheit 2.0, über Plattformen im Internet vermittelt und bequem als App verfügbar. Aber gut? Ich gebe zu, auch ich hatte mich nach einer intensiven Mitfahrphase auf bequemere Verkehrsmittel verlegt. Dieser Redezwang, unseriöse Anbieter, die das Ganze als Geschäft betrieben, mit Neunsitzern immer die gleichen Strecken abfuhren und bei der Abfahrt plötzlich höhere Preise verlangten als abgemacht, schließlich die Gebühr, die das verbreitetste Mitfahrportal mitfahrgelegenheit.de plötzlich verlangte. Viele Gründe, die eine Bahncard 25 deutlich attraktiver erscheinen ließen als die MFG. Die Fahrgemeinschaft mit unbekannten Mitfahrern geriet für eine Weile in Vergessenheit. Doch seit ich mehrmals im Monat auf einer Strecke pendele, auf der die Sparpreise schnell vergriffen sind und man den Anschluss zu oft verpasst, tauchte das Mitfahren plötzlich wieder als Alternative auf. Also probierte ich sie noch einmal aus und entdeckte dabei einen neuen Reiz. Ich fahre nun mit gesellschaftswissenschaftlichem Forschungsinteresse.

Ein schwarzer Mercedes hält vor mir auf dem Parkplatz. Ein Mitfünfziger mit Geschäftsmann-Attributen steigt aus und gibt sich als Mike zu erkennen. Mit ihm bin ich hier verabredet. Nicht nur ich, sondern auch ein junger Mann aus Mali fährt mit. Er wird von einem Freund begleitet, weil er selbst kein Deutsch spricht. Wir packen unser Gepäck in den Kofferraum, die beiden Freunde verabschieden sich, und los geht’s auf eine gemeinsame Fahrt durch Deutschland.

Mittlerweile habe ich in diesem Semester schon ca. 3.000 km innerhalb Deutschlands in Mitfahrgelegenheiten zurückgelegt. Und auf manchen Fahrten habe ich dabei mehr Unerwartetes über unsere Gesellschaft erfahren als in einigen meiner Soziologie- und Politikwissenschaftsseminare. Sieht man in den Beifahrern nämlich zufällig zusammengestellte Repräsentanten der Gesellschaft, dann sind die Fahrten quasi-empirische Studien zu sozialen Milieus, politischen Einstellungen, Generationenunterschieden und den unterschiedlichen Lebensumständen in Ost- und Westdeutschland.

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Während des Studiums verbringen Studierende den Großteil ihres Alltags in ihrer Uni-Blase. Man bewegt sich im akademischen Milieu und verbringt viel Zeit mit Gleichaltrigen, die oft aus ähnlichen Verhältnissen kommen, ähnliche Ansichten und ähnliche Zukunftsperspektiven haben. In Mitfahrgelegenheiten trifft man dagegen auf Menschen mit völlig anderen Hintergründen und Lebensmodellen. Menschen, die man sonst niemals treffen und wahrscheinlich auch nicht immer unbedingt kennenlernen wollen würde. Sie sind aber eben Teil der deutschen Gesellschaft und ihrer sozialen Phänomene, über die wir Sozialwissenschaftler in unserem Studium ja gerne mehr erfahren möchten. Und auf einer dreistündigen Fahrt hat man – wenn man es so nennen will – die Gelegenheit zu ausführlichen Interviews.

Auf den Fahrten habe ich Menschen getroffen, die seit Jahren jedes Wochenende zwischen Job und Familie quer durch Deutschland pendeln, weil sie in Sachsen keine Arbeit finden. Ich habe die Einwanderungsgeschichte der kasachischen Eltern eines Fahrers gehört, deren gelungene Integration sich nicht nur im teuren Wagen ihres Sohnes manifestierte. Und ich kann mir nach kontroversen politischen Diskussionen zwischen Fahrersitz und Rückbank besser vorstellen, was das für Leute sind, die die AfD wählen. (Und wie es ausgeht, wenn diese mit einem patriotischen Griechen auf dem Beifahrersitz die Euro-Krise diskutieren.)

Arbeitsmarkt, Familie, Migration und Integration, Parteipräferenzen und politische Einstellungen – klassische gesellschaftswissenschaftliche Themen. Man könnte auch sagen, die Erkenntnisse aus den Fahrten ergänzen die Theorie, die ich an der Uni lerne.

Wir sind am Zwischenziel angekommen. Wir Mitfahrer steigen hier aus. Unser Fahrer Mike hat noch zwei Stunden vor sich. Auf der Fahrt habe ich erfahren, dass auch er einer der Westpendler ist, der jedes Wochenende von Bonn nach Chemnitz zu seiner Frau fährt. Nachdem er seine Arbeit verloren hatte, ging es nicht mehr anders. Jetzt hofft er, dass er bald wieder eine Stelle in seiner Region findet, damit er seine Familie häufiger sieht als deutsche Autobahnen. Solange fährt er wöchentlich seine MFGs und hält den Mitfahrern Vorträge über die Themen, die ihn bewegen: Benzinpreise, Billigflüge und sein Navigationsgerät.

Der Mitfahrer aus Mali stellt sich als Flüchtling heraus. Auf Französisch erzählt er, dass er auf dem Weg zu seinem Bruder ist, der in einer Unterkunft in Thüringen lebt. Am nächsten Wochenende werde ich ihn auf dem Parkplatz am Bonner Bahnhof wiedertreffen und wir werden uns beide mit einem anderen Fahrer auf in Richtung Osten machen.

Natürlich weiß ich, dass nicht jede Erkenntnis gleich Wissenschaft ist und Forschung vielen Standards genügen muss. Die Gespräche während der Autofahrten sind nicht repräsentativ, da sich nur bestimmte Gruppen zu einer Fahrt mit Fremden entscheiden. Auch moralischen Forschungsstandards genügen meine »Interviews« nicht, denn die Probanden wissen ja nicht, dass sie Gegenstand meiner privaten Studien sind. Und natürlich sind auch viele Fahrten einfach langweilig – wenn man sich gar nicht unterhält oder bloß über das Wetter. Aber allen, die sich für unsere Gesellschaft interessieren, sie vielleicht sogar studieren und sich manchmal fragen, was das Studium mit der Realität zu tun hat, denen kann ich nur empfehlen, sich mit MFGs auf Reisen zu machen. Denn manchmal liegt die Einsicht nicht am Wegesrand, sondern auf der Autobahn.

 

Studieren in schwarz-weiß

UNI-ALLTAG IN DEN 50ERN  Heute belesene Rentnerin. Davor engagierte Lehrerin für Englisch und Geschichte. Und vor 60 Jahren war sie genau da, wo wir heute sind: Frau Lohmann. Warum nicht alles besser – und gar nicht so viel anders war.

VON ALINA SABRANSKY

Ohne Turmhelme – das Hauptgebäude Ende der 1950er Jahre (Foto: Unbekannt / Archiv der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität)

Ohne Turmhelme – das Hauptgebäude Ende der 1950er Jahre (Foto: Unbekannt / Archiv der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität)

Wen interessiert das denn?«, war Frau Lohmanns erste Reaktion, als ich ihr von meiner Idee erzählte, für die AKUT einen Artikel über ihre Zeit an der Uni zu schreiben. Ich aber machte mich freitags nachmittags trotzdem auf den Weg zu ihr nach Hause in Essen, vorbereitet mit einigen wenigen Stichpunkten, und auch noch ungewiss, in welche Richtung sich das Gespräch genau entwickeln würde. Ich wusste lediglich, dass sie auch hier in Bonn studiert hat, und zwar die gleichen Fächer wie ich, Germanistik und Anglistik. Wie sich allerdings gleich zu Beginn herausstellte, stimmte nur Ersteres. Von 1951 bis 1957 studierte sie zwar anfänglich Germanistik, jedoch gefiel ihr das Studium nicht allzu gut. Schon in den 50iger Jahren schienen Linguistik und Mediävistik, das Übersetzen und Lesen von Mittelhochdeutschen Texten, nicht gerade die beliebtesten Seminare unter den Studenten zu sein. Bis heute hat sich dieses Phänomen kaum gewandelt. Da belegte sie lieber Geschichte, Anglistik und Religionswissenschaften. Dazu noch Französisch und einige Kurse in Philosophie. »Wie, alles auf einmal?« hakte ich nach. »Ja, denn wie man seine Kurse richtig sortiert und wählt, hat einem damals keiner gezeigt. Ich habe einfach alles belegt, was mich interessierte und so stand ich an meinem ersten Unitag in einem riesen Haufen anderer Erstsemester vor dem schwarzen Brett und musste mir meine Seminare zusammen suchen. Ansprechpartner gab es keine und ich war heillos überfordert«, erzählte sie mir. Das Gefühl kann ich nachvollziehen! Ich fühlte mich am Anfang auch ziemlich orientierungslos, und das trotz, oder vielleicht auch wegen, BASIS.

Besonders gute Professoren hätte sie in Geschichte gehabt, erinnert sie sich weiter. Stephan Skalweit zum Beispiel lehrte Neuere Geschichte. Über ihn gibt es sogar einen Wikipedia-Artikel, genau wie über Gustav Mensching. »Er war der allererste Professor für vergleichende Religionswissenschaften in Bonn  und lehrte von 1936 bis 1972. Durch ihn wurde das Fach entschieden geprägt.« Bis heute ist sein Name den fachinternen Studenten ein Begriff, manchen allerdings auch aufgrund seiner mutmaßlichen NSDAP-Mitgliedschaft, wegen der  ihm kurz nach Kriegsende sein Lehrstuhl für zwei Jahre entzogen wurde. Überhaupt hatte der noch nicht allzu lang zurückliegende zweite Weltkrieg einige Auswirkungen auf das Unileben. Das Fach Anglistik wurde zu einem der begehrtesten Studienfächer, denn nach 1945 fiel Bonn unter die britische Besatzungszone, sodass sich besonders unter den jungen Leuten ein großes Interesse an der englischen Sprache entwickelte. »Muttersprachliche Dozenten gab es allerdings keine«, erzählte sie, » denn welcher Brite oder Amerikaner wollte schon freiwillig nach Deutschland«. Ich kann dazu nur sagen, dass bis heute die Zahl der von Geburt an Englisch sprechenden Dozenten und Professoren  höchstens minimal gestiegen ist. Im Jahre 2015, genau 70 Jahre nach Kriegsende, ist das ein ziemlich miserables Ergebnis. In Französisch gab es deutlich mehr Muttersprachler, da Frankreich politisch viel enger mit Deutschland verbunden war. Am prägnantesten in Erinnerung geblieben ist ihr ein Seminar über den französischen Schriftsteller François Rabelais. Ich musste ihn allerdings erst einmal googlen und habe dabei herausgefunden, dass die Uni Bonn mit einer gewissen Universität François Rabelais in der französischen Stadt Tours eine Erasmusbeziehung pflegt. Damals natürlich noch nicht, denn Auslandssemester waren erstens finanziell und zweitens politisch, man bedenke immer noch die Zeit, kaum möglich. Mich interessierte außerdem, wie Frau Lohmann sich als Frau unter den ganzen männlichen Kommilitonen gefühlt hat, denn ich ging davon aus, dass der Frauenanteil an den Universitäten in den 50igern bestimmt nicht allzu hoch ausfallen würde. »Unter all den Männern? Die waren doch fast alle tot«, antwortete sie darauf. Zwar gab es kaum Professorinnen, aber unter den Studierenden herrschte ein relativ ausgeglichenes Geschlechterverhältnis. »Jura war natürlich schon damals eine Männerdomäne«!

Frau Lohmanns Studienbuch (Foto: Alina Sabransky / AKUT)

Frau Lohmanns Studienbuch (Foto: Alina Sabransky / AKUT)

Um den Krieg aber mal Krieg sein zu lassen, versuchte ich das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken und erkundigte mich nach Studentenpartys. In der Form wie wir sie heute kennen, gab es sie jedoch kaum. »Außer in den Verbindungen. Die waren immer auf der Suche nach Mädchen für ihre Partys«, erinnerte sich Frau Lohmann. Generell war das Verhältnis der Studenten untereinander ein ganz anderes als wir es heute kennen. Feste Kontakte hatte Frau Lohmann nur etwa zehn, da es kaum Möglichkeiten und Stätten gab um sich zu treffen, außer in der Cafeteria im Unihauptgebäude, die wir heute als Café Unique kennen. Auch, dass sie und ihre Kommilitonen sich untereinander gesiezt haben, erstaunte mich sehr und kann ich mir in einer Zeit, in der selbst einige meiner Dozenten sich gerne duzen lassen wollen, kaum vorstellen. Aber die Bindungen, die sie damals in Bonn geknüpft hat, sind lange geblieben. Noch bis zu 40 oder 50 Jahre lang. Als ich nun erfahren hatte, wie die Beziehung unter den Studenten selbst war, wollte ich auch wissen, wie denn das Verhältnis zwischen Professoren und Studenten aussah. »Es gab keines«, war ihre schlichte Antwort. Die Seminare wurden im trockenen Frontalunterricht durchgezogen, ohne irgendeine Form von Kursdiskussion und wenn man eine Frage hatte, musste man nach der Stunde schnell zum Professor eilen, da damals von Sprechstunden nicht allzu viel gehalten wurde. Durch basis und ecampus haben wir heute ja sogar in der unifreien Zeit die Möglichkeit, mit unseren Dozenten Kontakt aufzunehmen. Frau Lohmann findet, dass das Internet, zumindest in diesem Punkt, einige Vorteile und Erleichterungen für die Kommunikation birgt. An ein Erlebnis aus einem Geschichtsseminar erinnerte sie sich besonders lebhaft. Eine ihrer Kommilitoninnen befasste sich in ihrer Hausarbeit mit Bismarck, jedoch schrieb sie den ersten deutschen Reichskanzler durchweg mit »k« anstatt mit »ck«. Der Professor nahm es sich daraufhin zur Aufgabe, sie vor dem gesamten Kurs mehrere Minuten bloßzustellen und sie zu demütigen. Es sei generell nicht unüblich gewesen, Seminararbeiten vor allen anderen, anstatt in einem persönlichen Vier-Augen-Gespräch zu besprechen. Dass man heute sogar Dozenten duzen soll, findet sie zwar übertrieben, aber die Distanz sollte auch nicht zu groß sein. »Ein bisschen mehr menschliches Feingefühl von Seiten des Lehrpersonals hätte nicht geschadet«.

Mich interessierte noch, wie und wo sie damals gewohnt hat. Das Konzept von Wohngemeinschaften war noch nicht ausgereift und es war üblich, ein Zimmer bei einer Familie zu bewohnen. »Mein erstes Zimmer war in einer ganz kleinen Wohnung einer Familie, an die mein Vater  Geld für die Kohle zum Heizen zahlen musste. Bis auf ein Bett und einen winzigen Schreibtisch, stand dort nichts drin. Mein zweites Zimmer lag in der Rosenstraße, also ganz in Rheinnähe, ebenfalls bei einer Familie. Zum Glück aber diesmal außerhalb von deren Wohnung«, erzählte sie, denn sie fühlte sich immer verpflichtet, kein Angebot zum Kaffee oder einem Gespräch abzulehnen. Gegessen hat sie in der Mensa, denn die Küche durfte sie nicht mitbenutzen. Deren Konzept hat sich übrigens bis heute kaum geändert, wie wir beide belustigt festgestellt haben. Unten gab es »Blechnäpfe mit Suppen und Eintöpfen« für 1,5 DM und oben war es teurer, dafür aber um einiges besser.

Am Ende, nach fast zweieinhalb Stunden Gespräch und mehreren Tassen Tee, fragte mich Frau Lohmann noch, ob ich wüsste was ein Studienbuch sei. Ich verneinte und sie legte vor mir ein kleines, ziemlich gut erhaltenes Heftchen auf den Tisch. Das Studienbuch besteht aus einer Führung über ihr gesamtes Vorlesungsverzeichnis. Nach Ende eines jeden Semesters musste man sich beim Professor eine Unterschrift abholen, die die Teilnahme bestätigen sollte. Sogar Professor Menschings persönliche Signatur entdeckten wir beim Durchblättern. Außerdem war in der rechten Spalte fein säuberlich der Preis für die jeweilige Vorlesung eingetragen, der meistens um die 10 DM betrug.

Kurz bevor ich gehen will, bemerkte Frau Lohmann dann noch einmal, dass das ja wirklich keiner lesen wolle. Das muss sie aber dann doch mir überlassen, fand ich und bedankte mich für das sehr interessante Gespräch.

Something wicked this way comes

Achtung: Schusswaffengebrauch auf der Bühne! – Macbeth in der Brotfabrik. Von Florian Eßer

(Foto: Jella Ritzen)

(Foto: Jella Ritzen)

Ein vermummter Gefangener kniet auf dem Boden, links und rechts flankiert von Terroristen mit Skimasken und Sturmgewehren. Ein Newsticker verkündet die neuesten Eilmeldungen und Aktienkurse. Sieht aus wie eine ganz normale Nachrichtensendung auf N24. Bis drei Hexen auf die Bühne kommen und den Geiselnehmern die Hälse brechen. So was sieht man auf N24 nicht. Willkommen bei Macbeth.

Jene Hexen sind es auch, die Hauptcharakter Macbeth (Thomas Pähler) prophezeien, dass er bald König von Schottland werde – wofür der aktuelle König, Duncan (Marc Erlhöfer), jedoch den Platz räumen muss. Angestachelt von Lady Macbeth (Imke Lichterfeld) zieht ihr Gatte los, um Duncan zu erstechen: Dolche, Mord und Kunstblut.

Weitere Verbrechen folgen, weder Freund noch Feind sind vor dem zunehmend von Macht und Paranoia getriebenem Macbeth sicher. Er wird zum verrückten Despoten, zum unbarmherzigen Kim Jong-un Schottlands – und schließlich zur Gefahr für sich und sein Reich. Wie einst der Gier, verfällt er nun dem Wahnsinn. Halluzinationen vermischen sich mit der Realität: Macbeth begegnet dem Geist seines Freundes Banquo (Ben Heering), der auf seinen Befehl hin von Attentätern getötet wurde, und schließlich auch seinem Schicksal.

Soweit, so Shakespeare.

Was dem alten Klassiker aber neue Frische verschafft, ist die fabelhafte Umsetzung der Bonn University Shakespeare Company (BUSC), die das »Schottische Stück« auf der Bühne des Kulturzentrums »Brotfabrik« in eine moderne Dystopie verwandelt. Da kommen Mobiltelefone und Schusswaffen zum Einsatz, die – durch realistische Effekte – für den ein oder anderen Schreckmoment in den Zuschauerreihen sorgen. Kostüme und Licht, sowie das Bühnenbild, schaffen eine düstere Atmosphäre, die durch die gute Schauspielleistung noch verstärkt und auch außerhalb des Stückes fortgesetzt wird. Nachdem Duncan etwa den Königstod gestorben ist, kann man während der Pause im Foyer seine Gedenktafel studieren – oder Plakate, die für die fiktive »Duncan-Cola« werben. Schöne Details.

Orientiert wird sich auch an reellen Diktaturen, wie dem Dritten Reich: Die Soldaten Macbeths tragen charakteristische Stahlhelme und Armbinden, ein riesiges Porträt des Tyrannen propagiert den Führerkult. Und wenn Macbeth schließlich, unterstützt von einem knarrendem Mikrophon, zu seiner letzten großen Rede ansetzt, glaubt man tatsächlich, Darsteller Thomas Pähler sei ein hauptberuflicher Diktator, der zwischen zwei Staatsbanketten sich selber mimt.

Vor diesem Hintergrund – Maschinenpistolen, Handys, Cola-Werbung – wirkt die altenglische Originalsprache des Stückes teilweise zwar etwas ulkig, niemals aber fehl am Platz. Die Vermischung all dieser großen und kleinen Aspekte, von Tradition und moderner Inszenierung, trägt zum Eigencharakter des Stückes bei. Bloß kann die Sprache bei einer Dauer von knapp drei Stunden etwas anstrengend werden. Für die Zuschauer, wie sicherlich auch für die Schauspieler. Die lassen sich das aber überhaupt nicht anmerken.

Dialoge wechseln sich mit Action-Szenen ab, die aber niemals nur Mittel zum Zwecke der Unterhaltung sind. Da wird gebrüllt und geeifert, geschossen und gekämpft wie in einem Martial-Arts-Film: Treten, ducken, schlagen, werfen – und am Ende heißt es dann: »justice will be done«.

Hinter den Kulissen

SO EIN THEATER  »All hail, Macbeth!«, schreibt Shakespeare in seinem Schottland-Drama. Die Bonner Shakespeare Company hat im Dezember ihre eigene Inszenierung aufgeführt. Und das Drama fand nicht nur auf der Bühne statt – über die letzten Tage vor der Premiere.

VON PHILIPP BLANKE

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Die Schuhsohlen von Marian Blok quietschen auf dem schwarzen Gummiboden, als er das Studio der Beueler Brotfabrik betritt. Der 22-Jährige sieht zufrieden aus, als er seine Kollegen von der Bonn University Shakespeare Company (BUSC) begrüßt. Bei der aktuellen Produktion von »Macbeth« ist er der Regisseur – und heute die letzte Hauptprobe.

Trotz kalter Temperaturen und dem kühlen Charme der Industriehalle ist es eine herzliche Atmosphäre. Die meisten der etwa 30 Schauspieler, Requisiteure und Helfer sind anwesend. Unter ihnen ist auch Christine Lehnen, die eine der drei Hexen in Shakespeares Drama spielt. »Die dürfen machen was sie wollen«, erzählt die 25-Jährige begeistert. »Das macht sehr viel Spaß!« Immer mehr Leute trudeln ein, begrüßen ihre Kollegen und fangen an, ihre Kostüme anzuziehen. Auf einem rechteckigen Holztisch liegen Hemden und Gürtel, daneben Theatermesser auf einer silbernen Waffenkiste, sowie Sektgläser und ein Silbertablett. »Wo ist meine Hose?«, fragt jemand kurz bevor ein anderer »Vorne könnt ihr euch Kaffee machen« durch den Saal ruft.

Marian steht im Raum und geht seine Notizen durch. Es ist eine Ansammlung loser Blätter, die mit einem Kugelschreiber beschrieben worden sind. Neben ihm steht Ina Habermann mit dem Drehbuch – DIN A4-Format, Spiralheftung, Maschinenschrift – und gibt ihm Infos zu einzelnen Szenen. Sie ist bei der Produktion die Souffleuse und hilft bei Textfragen aller Art. Als Marian alles notiert hat, ruft er »Alle bitte einen Kreis bilden«, und geht ans andere Ende des Raumes. »Versucht alle Sachen, die ich euch mal gesagt habe, anzuwenden«, beginnt er. Marian spricht einige Szenen an, bei denen er sich noch ein paar Verbesserungen wünscht: »Der Aufgang muss da schneller gehen. Wir sind zu langsam.« Während seiner Ansprache wird es immer mal wieder unruhig im Kreis, weil manche dazwischen reden. Durch ein »Pscht!« wird es aber wieder still.

Vor Probenbeginn übernimmt Janine Lockwood das Aufwärmen. Mit ihren 50 Jahren ist die gebürtige Britin eine der ältesten Mitglieder des Teams. Sie bereitet ihre jüngeren Kollegen selbstbewusst auf die Probe vor. »Centre yourself«, sagt sie zu Beginn und es wird eine Minute lang ganz still im Raum. Dann ruft sie »Move your shoulders. Up and down«, und 30 Menschen folgen ihr. Nach lautem Stampfen, Nackenbewegungen, tiefem Ein- und Ausatmen, und einer Sprechübung, bereiten sich alle auf die erste Szene vor.

Marian und Ina sitzen auf zwei Stühlen und schauen auf die Probebühne. Ein dritter Stuhl bleibt leer. »Normalerweise sitzt hier noch Anthea, unsere Producerin. Aber die kann heute nicht«, sagt Marian. Für die erste Szene stehen nun alle bereit. Ein Schauspieler kommt kurz zu Marian und zeigt ihm seine braunen Budapester. »Sind die Schuhe okay?«, fragt er. »Ja, ja, die sind gut«, erwidert Marian und blickt wieder auf seine Notizen. Sein Gesicht wirkt angestrengt. Bis auf das Geräusch der Bahn, die ein paar Meter weiter vorbeirauscht, ist es jetzt ruhig. Christine und die beiden anderen Hexen stehen für die erste Szene bereit. »Es wird konfus werden«, murmelt Marian, »da bin ich mir sicher.«

Uniformen, Stiefel, Federboas

Zwei Tage später steht Marian gestresst und verschwitzt im Theater in der Brotfabrik. Das Ensemble zieht heute vom Studio in den Aufführungssaal – doch die Leute fehlen. Um 16.00 Uhr hatten sie sich verabredet, doch noch ist niemand zu sehen. Nach einer Viertelstunde fahren zwei BUSC-Mitglieder auf einer Sackkarre ein schweres Bühnenelement durch die Toreinfahrt der Brotfabrik. Einer der beiden, Michael Bohacz, erzählt schnaufend aber stolz, dass das Holzpodest Handarbeit ist: »Wir haben das in unserem Fundus gebaut.« Der Fundus ist eine große Garage in Beuel, die die BUSC gemietet hat. Dort liegen nahezu alle Requisiten und Bühnenelemente der letzten Jahre.

Als Marian das Podest sieht, ist er etwas kritisch: »Ist das wirklich 60 cm hoch?« Michael bejaht, und nachdem Marian mehrfach das Podest bestiegen hat, ist er mit der Höhe zufrieden. Doch das Ungetüm passt nicht in den Lastenaufzug des Theaters. Man ist etwas konsterniert und beschließt erstmal eine Pause zu machen. »Lass warten, bis mehr Leute da sind«, sagt Michael.

Anthea Petermann, die Producerin, ist heute wieder da und muss direkt den Maskenplan neu organisieren. »Eine die schminken sollte, hat kurzfristig abgesagt«, sagt die 25-Jährige etwas verärgert. »Ich verstehe ihre Absage, das ist echt nachvollziehbar. Aber im ersten Moment nervt es einen natürlich.« Anthea ist für den reibungslosen organisatorischen Ablauf der Produktion verantwortlich – für Probenpläne, Verhandlungen mit der Brotfabrik und die Maske. Sie selbst sei eine Art »Supervisor« und die rechte Hand von Marian, erzählt sie. Macbeth ist bereits ihre siebte Produktion bei der BUSC.

Wenig Platz, viel zu tun – Christine Lehnen in der Maske (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Wenig Platz, viel zu tun – Christine Lehnen in der Maske (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Während zwei Arbeiter die Bühne umbauen und schwarzen Gummiboden verlegen, werden im Backstagebereich die ersten Accessoires eingeräumt. Die Räume bestehen aus einem ca. zehn Quadratmeter großen Maskenraum, einem schmalen Gang direkt hinter der Bühne, und einem verwinkelten Flur. Im Maskenraum stapeln sich Damenschuhe und Soldatenstiefel, Uniformen, Barette und Federboas – nach Schauspieler sortiert und auf einer Garderobenstange hängend. Für die Kostüme und einen Teil der Requisiten ist Jean Lavalette verantwortlich. Privat habe er um die 100 Einzelstücke: »Ich schaue immer mal wieder bei E-Bay und biete für Uniformen. Meistens interessiert sich dafür keiner, und dann bekomme ich sie sehr günstig.« Rechnet man alle Kostüme und Accessoires der BUSC zusammen, dann seien es ca. 400 Stück, erzählt er.

Auf zwei Tischen, die im schmalen Gang hinter der Bühne stehen, bereitet Christine Decker Zeitungen, ein altes Bündel Reichsmark, Kerzenständer und eine Wokpfanne vor. Die 22-Jährige ist seit einem Jahr bei der BUSC und kümmert sich um die Requisiten und das Stage Management. »Ich bin für alles zuständig, was die Schauspieler benutzen und in der Hand haben«, erzählt sie. Die meisten Requisiten kämen dabei von Leuten, die ihre Sachen zu Hause einfach nicht mehr brauchen. Bei dem Reichsmark-Bündel habe man aber einfach ins Internet geschaut. Welche Requisiten es am Ende auf die Bühne schaffen, entscheidet Marian als Regisseur. »Es ist so, dass ich die meisten Vorgaben direkt von ihm bekomme«, erklärt Christine. Doch auch die Schauspieler würden sich zu ihren Texten bereits überlegen, was sie gut gebrauchen könnten. »Meine Aufgabe ist dann zu schauen, was geht, und was nicht.«

Pizza und Licht

Am Tag der Generalprobe riecht es im Innenhof der Brotfabrik nach Lack. Auf dem geteerten Boden liegen vier weiße lange Stoffbahnen, die mit goldenem Lack besprüht werden. Nach und nach tragen alle vier Banner eine Königskrone. Drinnen im Saal ist es sehr ruhig. Ein paar Schauspieler essen Pizza, während über der Bühne ein Beamer den Schriftzug »Order Unity Progress« auf eine weiße Fläche projiziert. An den Seiten stehen bereits die vier hohen Traversen, an denen später die besprühten Banner befestigt werden sollen. Hinten im Maskenraum ist es zwischen den Kostümen und zahlreichen Schminkdosen sehr eng. In der offenen Tür sitzt Johannes Schwerin auf einem kleinen Hocker und versucht eine Pizza Calzone zu essen. Es ist etwas umständlich, so dass kleine Stücke der Kruste auf dem Boden landen.

Am anderen Ende des Saales sitzen Marian, Anthea und Florian, Techniker der Brotfabrik, hoch oben im Regieraum. Sie probieren verschiedene Lichteinstellungen für die Bühne aus. »Eine Idee mehr von dem kalten«, sagt Marian und Florian dreht ein bisschen am Regler, bis das Licht hell genug ist. Von der Bühne kommen laute Geräusche. »Was ist denn da los?«, fragt Marian halb interessiert, halb genervt. Anthea erhebt sich kurz von ihrem Stuhl, blickt herunter auf die Bühne und stellt fest: »Da wird getackert; das ist der schwarze Stoff für das Podest.« Alle drei wenden sich wieder dem Licht zu. Wenig später steht Anthea unten vor der Bühne und schaut dem langsam einsetzenden Trubel zu. Gleich beginnt die Generalprobe, und sie ist zufrieden: »Ist ein guter Tag heute.«

Pscht, es wird ernst!

Der Premierentag beginnt in der Brotfabrik angenehm ruhig. Marian und Anthea sitzen wieder oben im Regieraum und besprechen letzte Details. Auf der Bühne spricht Thomas Pähler, der die Hauptrolle spielt, Auszüge seines Textes und probt eine Kampfszene. Christine prüft hinter der Bühne die Requisiten. Wenig später hört man durch die offenen Saaltüren metallischen Lärm aus dem Foyer. Peter Schild, Vorsitzender und Gründungsmitglied der BUSC, fährt vier Bierkästen auf einer Sackkarre hinein. Hinter ihm schiebt Ina, die Souffleuse, einen Einkaufswagen mit Sekt und Orangensaft hinterher. Peter steuert zielstrebig auf eine Tür zu. »Schließ mir mal hinten den Notausgang auf. Ich muss das Bier kühlen«, sagt er zu Florian, und verschwindet mit ihm durch die Tür nach draußen. Kurze Zeit später kommen Peter und Ina erneut herein – mit großen Brötchentüten und einigen kleinen Wasserflaschen. »Für die Premierenfeier«, erklärt Anthea.

Im schmalen verwinkelten Flur hinter der Bühne probiert Christine Lehnen mit ihren Hexenkollegen schwarze Augenmasken an. Sie sind aus halbtransparentem Stoff, so dass die Augen verdeckt sind, man aber immer noch hindurchschauen kann. Janine, die Britin, hat so ihre Probleme damit. »I have bad night vision – and already glasses!«, seufzt sie. Christine ist mit ihrer Maske zufrieden. »Der Stoff wird jetzt mit Wimpernkleber fixiert. Das hält ganz gut«, erklärt sie.

Zettelwirtschaft – Marian Blok und seine Notizen (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Zettelwirtschaft – Marian Blok und seine Notizen (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Im Maskenraum ist es sehr heiß geworden. Die Schauspieler werden geschminkt und ziehen ihre Kostüme an. Ein kleiner schwarzer Standventilator neben der Eingangstür versucht kühle Luft zu zu spenden. Als Johannes Neubert, der von allen nur Jupp genannt wird, kommt, zieht er eine Duftspur hinter sich her. Sie riecht nach Pommes und Mayonnaise. Einer ruft ihm zu: »Boah, Jupp, bist du geil!« Alle lachen.

Thomas steht in seiner schwarzen Uniform mittendrin und experimentiert mit zwei Hosenträgern. Die sollen nachher als Accessoire an seiner Jacke hängen. Der 27-Jährige befestigt die Träger an seinem weißen breiten Gürtel. Jean ist noch nicht überzeugt. »Hast du in der Szene Zeit das anzuknipsen?«, fragt er. Thomas überlegt kurz, wiegelt dann aber ab: »Da ist eh Chaos.«

Im Foyer des Theaters warten derweil die ersten Zuschauer. Ina sitzt dort an einem kleinen Tisch und verkauft Programmhefte. Sie trägt eine deutlich sichtbare rote Schärpe. Trotzdem werden nicht viele Hefte gekauft – gerade einmal 13 Stück. Das sei aber normal, sagt sie.

Es ist kurz vor halb Acht, als Marian zum Aufwärmen brüllt. Man ist etwas hinter dem Zeitplan, denn in zehn Minuten sollen die Türen schon geöffnet werden. »Wir haben Premiere. Jetzt wird es ernst«, sagt Marian, als sich alle in einem Kreis aufgestellt haben. »Denkt daran, was wir besprochen haben. Gerade die Aufgänge – schnell! Das zieht sonst zu viel Zeit!«, erinnert er. Einige albern ein wenig herum, es folgt ein »Pscht«, und es ist wieder ruhig. Nach dem Aufwärmen durch Janine werden die Türen geöffnet. Die Zuschauer betreten den Saal. Im Flur hinter der Bühne steht noch ein Bügelbrett. »Das muss weg«, ruft einer und klappt es dann zusammen. Im Maskenraum ist es noch heißer als vor zwei Stunden. Als die drei schweren schwarzen Eisentüren, die Flur, Maskenraum und Bühne voneinander trennen, geschlossen werden, sind es nur noch wenige Minuten bis zur Aufführung.Oben im Regieraum stehen Marian und Anthea. Als alle Zuschauer ihre Plätze eingenommen haben, gibt Marian ein Zeichen – das Saallicht geht aus. Ein Spot wird auf den Saaleingang gerichtet, in dem Peter auftaucht. Er erinnert die Zuschauer daran, ihre Handys auszuschalten und während des Stückes nicht zu reden. Es wird wieder dunkel.

Marian und Anthea sitzen jetzt auf der Schwelle zwischen Regieraum und Treppenaufgang. Es sieht von hinten so aus, als ob zwei Schulkinder auf einer Mauer sitzen und schauen, was in weiter Ferne passiert. »Kannst du genug sehen?«, fragt Anthea Marian. Sie rücken beide noch ein bisschen zusammen. Das Bühnenlicht geht an. Die Schauspieler stehen auf der Bühne. Macbeth hat begonnen.

Mehr Fotos von den Proben gibt’s auf der AKUT-Facebookseite!

Was wird aus Viktoria?

BAUPROJEKT BEERDIGT  Der Bonner Stadtrat hat sich dem Bürgerbegehren gegen das Einkaufszentrum angeschlossen und eine Bürgerbeteiligung zur weiteren Gestaltung des Viertels einberufen. Jetzt beginnen die Diskussionen: Was wird aus dem Viktoriakarree?

VON ANNIG HELD

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

»Mehr Wohnraum und eine Kita!«, fordert der Eine, während die Nächste von einem Club im ehemaligen Viktoriabad träumt: »Das wäre cool.« Wieder ein Anderer plädiert für eine Markthalle – oder doch lieber ein großes Kulturveranstaltungszentrum für Jung und Alt? »Hauptsache nicht noch ein Friseur«, resümiert der Letzte und eine Stimme witzelt, dass sich das Grundstück doch eigentlich ganz gut für ein Einkaufszentrum anbiete.

Die erfolgreiche Verhinderung der Shoppingmall bildet schließlich den Ausgangspunkt für die Diskussion um die Zukunft des Viktoriaviertels: dem seit letztem Sommer stark umstrittenen Gebiet zwischen Rathausgasse, Franziskanerstraße, Stockenstraße und Belderberg. Hatte der Bonner Stadtrat im Juni noch mit mehrheitlichem Beschluss für den Verkauf der städtischen Flächen an eine Tochtergesellschaft der SIGNA votiert, zeigte sich nun in einer Sondersitzung am 30. November eine kaum noch für möglich gehaltene Kehrtwende im Geschehen. Mit der knappen Mehrheit von 42 zu 41 Stimmen wurde das Bürgerbegehren gegen das Projekt bewilligt, das zuvor mit 16.414 gültigen Unterschriften die Entscheidung des Rats angezweifelt hatte (s. AKUT Nr. 339).

Das monatelange Tauziehen um das Gelände hat damit ein Ende. Es wird keinen Bürgerentscheid mehr geben, stattdessen steht fest: Das Areal wird nicht an den Investor verkauft. Zusätzlich folgte der Rat dem SPD-Antrag nach »eine(r) Bürgerbeteiligung in Form einer Bürgerwerkstatt« zur weiteren Gestaltung des Geländes. Ihre Ergebnisse sollen anschließend in einem »nicht-vorhabenbezogenen Bebauungsplan« berücksichtigt werden – so die Pressemitteilung der Stadt Bonn. Das schließt jegliche Zusammenarbeit mit einem Investor und bereits anvisierten Plänen aus.

Tabula Rasa also im Viertel, alle Zeiger stehen wieder auf Null. Doch beginnen sie bereits zu ticken und einen neuen Prozess in Gang zu setzen. Das Grundstück erstreckt sich plötzlich fast mystisch neben der Uni und fragt: Was geschieht mit mir? Verändere ich mich, wie verändere ich mich, muss ich mich überhaupt verändern?

Da winkt das Schwimmbad und lädt ein in seine goldenen Hallen. »Schau, was sich aus mir machen lässt«, sagt es, indessen sich gegenüber die große Pforte eines Cafés öffnet und den Eintritt in ungeahnte Welten verspricht.

Das Viktoriaviertel als Wunderland: Hängt diese Metapher wirklich mit dem Wort der »Bürgerbeteiligung« zusammen? Ist es ein Synonym für die Akkumulation hanebüchener Phantasien, die niemals zu einer konkreten Umsetzung gelangen? So zumindest formulieren es Gegner des Konzepts, die bereits einen ›Dornröschenschlaf‹ für das Viertel voraussagen. Dabei verweisen sie auf die Bürgerwerkstatt von 2005 zur Neugestaltung des Bonner Bahnhofsvorplatzes, deren Ideen letztendlich nie realisiert wurden.

Seitdem hat sich jedoch einiges getan. Bonn scheint zu einer Art Vorreiter in Sachen Bürgerbeteiligung avanciert zu sein – oder möchte es gerne sein: 2009 richtete die Stadt einen Ausschuss und eine Projektstelle zu dem Sujet ein; seit 2011 werden Einzelkonzepte durchgeführt. Dirk Lahmann, Ansprechpartner für Bürgerbeteiligung bei der Stadt Bonn, hat eine Präsentation zum Thema erstellt, die sich im Internet einsehen lässt. Darin erklärt er: »Bürgerbeteiligung ist in Bonn der Oberbegriff für alle Maßnahmen und Initiativen, die eine aktive Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger ermöglichen sollen.«

2014 hat Bonn dafür als eine der ersten Städte überhaupt Leitlinien für die Form der Bürgerbeteiligung beschlossen. Diese fordern vor allem die frühzeitige Einbindung und das Mitspracherecht der Bonner Bürger sowie transparente Gestaltung und Ergebnisoffenheit im Partizipationsprozess. Kriterien, deren Umsetzung im Geschehen rund um das Viktoriaviertel bisher noch fragwürdig erscheinen.

Die Bürgerbeteiligung für das Viertel steckt jedenfalls noch ganz in ihren Anfängen. Ideen gäbe es bereits, sagt Lahmann, die konkrete Ausarbeitung geschehe aber erst in den nächsten Wochen.

Dass sie tatsächlich erfolgt und Bonn seiner Rolle als Musterkommune für Bürgerbeteiligung gerecht wird, darauf möchte die »Viva Viktoria!«- Initiative achten. Sie war es, die das Bürgerbegehren anmeldete, wöchentliche Demos organisierte und letztendlich fast 20.000 Unterschriften gegen das Einkaufszentrum sammelte. Motiviert durch ihren Erfolg, sieht sich die Gruppe auch jetzt in der Mitverantwortung, die Bürger in den weiteren Gestaltungsprozess des Viertels einzubinden. So präsentierten ihre Mitglieder gleich ein paar Tage nach dem Ratsbeschluss ein erstes Konzept zur Umsetzung der Bürgerbeteiligung: entwickelt von Politikwissenschaftlern und Architekten und bereits der Stadtverwaltung als Diskussionsgrundlage vorgelegt. Denn ideal, so findet die Initiative, wäre eine Zusammenarbeit zwischen Stadt und »Viva Viktoria!«. Um diese auf Augenhöhe gestalten zu können, möchte »Viva Viktoria!« nicht lediglich von der Finanzierung der Stadt abhängig sein, sondern durch Crowdfunding eine Co-Finanzierung aufstellen. Damit könne man bereits auf dieser Ebene eine Beteiligung der Bürger schaffen, die kleine eigenständige Projekte sowie eine schnellere Handlungsdurchführung ermögliche.

»Viva Viktoria«-Verteter Axel Bergfeld (Foto: NIKOLAS.MUELLER.ART)

»Viva Viktoria«-Verteter Axel Bergfeld (Foto: NIKOLAS.MUELLER.ART)

Ziel des »Viva Viktoria!«-Konzeptes ist ein ganz bestimmtes: der Masterplan. Mit ihm rechnet die Gruppe bereits im nächsten Sommer. Zuvor aber werden drei Phasen durchlaufen, nämlich die der Information, der Ideensammlung und der Konkretisierung. In ihnen soll es sowohl öffentliche Veranstaltungen als auch eine Online-Plattform geben, die es allen interessierten Bürgern ermöglicht, aktiv Ideen einzubringen und sich im gegenseitigen Austausch an der Gestaltung zu beteiligen. Axel Bergfeld, Vertretungsberechtigter von »Viva Viktoria!«, ist es dabei zum einen wichtig, die 2014 aufgestellten Leitlinien zur Bürgerbeteiligung auf ihre praktische Umsetzbarkeit zu prüfen. Zum anderen geht es ihm aber auch um Fortschritt. Die Bürgerbeteiligung soll zu realistischen Ergebnissen gelangen, die anschließend im Bebauungsplanverfahren schrittweise umgesetzt werden können. Auf die Frage, wie Bergfeld selbst sich den Masterplan für das Viktoriaviertel wünscht, antwortet er: »Wir haben keine Vorstellung, es geht uns gerade um Ergebnisoffenheit. Statt des Einkaufszentrums wäre aber eine kleinteilige und individuelle Einzelhandelsentwicklung denkbar, bei der die alteingesessenen Institutionen erhalten bleiben können.«

Ob sich die Stadt auf den Konzeptvorschlag sowie eine generelle Zusammenarbeit mit »Viva Viktoria« einlässt, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. Der erste konkrete Schritt der Initiative soll nun zunächst ein Info-Container an einem öffentlichen Platz sein. Ab Januar können sich die Bürger in ihm über das Viktoriaviertel und seine Möglichkeiten erkundigen, bevor es zur Phase des Ideenaustausches kommt.

Zwar lässt sich zu diesem Zeitpunkt weder Erfolg noch Niederlage der Bürgerbeteiligung für das Viktoriaviertel voraussagen. Trotzdem verspricht das Projekt, spannend zu werden. Schließlich vereint es Menschen in einem gemeinsamen Vorhaben und bietet ihnen die Möglichkeit eines direkten Mitgestaltens an kommunalpolitischen Prozessen. »Partizipation gehört zu den zentralen Grundlagen von Demokratie«, heißt es in Lahmanns Präsentation. Damit sagt er nicht zuletzt das aus, was das Bürgerbegehren gerade geschafft hat: Dass die Bewohner Bonns mit viel Engagement und Willenskraft Veränderungen in Politik und Verwaltung schaffen können. Vielleicht bleibt das Viertel wie es ist – eigen und nicht von jedem geliebt. Vielleicht erfährt es aber auch seine persönliche Aschenputtel-Geschichte und gelangt zu ganz neuer Schönheit.

Instaview

FOTOGRAFIE  Unter seinem Pseudonym »thatkidfrombonn« findet man Joseph Strauch vor allem bei Instagram. Er ist 21, angehender Mediengestalter und lebt in Bonn. Wir haben ihn um ein spezielles Interview gebeten – mit Fragen und Antworten, aber ohne Worte.

INTERVIEW PHILIPP BLANKE 

 instaview

Ich sehe was, was du nicht siehst

BLICK AUF BONN  Etliche Jahre lebt man in einer Stadt – und kann die einfache Frage nach deren sehenswertesten Ecken dann doch nicht beantworten. Ob als Tourist oder als Einwohner – wie man eine Stadt wahrnimmt, kann sehr unterschiedlich sein. Alles eine Frage der Perspektive.

VON DOMINIQUE MÜLLER

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Was muss man hier in der Stadt mal gesehen haben?«, oder auch: »Was kann man denn hier so unternehmen?« Wer kennt sie nicht, diese Fragen? Sei es von Verwandten, die zu Besuch kommen oder von Kommilitonen aus anderen Städten. Als mich neulich ein Arbeitskollege fragte, was man in Bonn alles so machen könne und mal gesehen haben sollte, wusste ich spontan keine passende Antwort. Erneut wurde mir bewusst, wie schwer das zu beantworten ist. Und das, obwohl ich schon seit fast 23 Jahren – also mein ganzes Leben – in Bonn wohne. Man nimmt die eigene Stadt einfach anders wahr.

Es ist komisch: Zum Teil kann ich von Städten, die ich schon öfter besucht habe, intuitiv und spontan besser Auskunft über Sehenswertes geben. Denn, bevor man in den Urlaub fährt und andere Städte und Länder bereist, informiert man sich in der Regel, was man alles ansehen sollte. Beim Besuchen einer anderen Stadt hält man die Augen viel weiter offen als in der Heimatstadt. Man ist viel empfänglicher für alle möglichen Details, die man in der eigenen Stadt übersehen würde.

Wieso ist das so? Das zu beantworten ist schwierig. Im Zweifelsfall liegt es einfach daran, dass man sich keine Zeit nimmt, aufmerksam zu sein. Oder man interessiert sich schlichtweg nicht für die Besonderheiten der eigenen Stadt. Vielleicht ist es einem auch nicht bewusst, was die eigene Stadt zu bieten hat. Es ist schade, dass man in der eigenen Heimatstadt recht uninteressiert ist an Sehenswürdigkeiten. Schlimmer noch, teilweise empört man sich über die nervigen Touristen, ihre Fotoapparate und Selfie-Sticks.

Dabei sind es doch meist die Kleinigkeiten, die man sich schnell mal zwischendurch anschauen könnte – und dennoch einfach außer Acht lässt. Zum Beispiel den »Weg berühmter Persönlichkeiten«, der seit 2005 existiert. Er befindet sich unter anderen in der Bonngasse und der Friedrichstraße. Er besteht aus Bildern, die in den Boden eingelassenen sind und Persönlichkeiten zeigen, die in Bonn geboren wurden oder in enger Beziehung zur Stadt stehen. Seit Mai 2015 sind es 23 an der Zahl. Unter ihnen befinden sich Ernst Moritz Arndt, Konrad Adenauer, Willy Brandt und – natürlich, wie könnte es anders sein – Ludwig van Beethoven. Diese recht kleinen Bodentafeln sind ein gutes Beispiel dafür, dass man als Bewohner der Stadt Bonn schnell mal seine Umgebung vergisst und oft in Eile einfach daran vorbei läuft. Wäre ich Tourist in Bonn, würde ich mir jede einzelne der Persönlichkeiten einmal genauer anschauen und in Erfahrung bringen wollen, in welcher Beziehung sie zur Stadt stehen.

Ähnlich verhält es sich mit dem Beethovenhaus. Ob es sich lohnt, hineinzugehen, darüber lasst sich streiten. Doch wer Bonn besucht, sollte es einmal gesehen haben. Beethoven hat ja bekanntlich nicht sehr viel Lebenszeit in Bonn verbracht – die Stadt ist trotzdem sichtlich stolz darauf, dass er hier geboren wurde. Ich bin am Beethovenhaus schon etliche Male vorbei gelaufen, habe es aber erst vor kurzem geschafft es zu besuchen.

Es ist definitiv schade, dass man in der Heimatstadt, oder generell wenn man in einer Stadt nicht mehr neu und neugierig ist, nicht mehr genau hinsieht. Es lohnt sich auch in der eigenen Stadt, mit etwas offeneren Augen durch die Straßen zu gehen. In der letzten Ausgabe haben wir darüber berichtet, wie Bonn sich verändert. Nichtsdestotrotz hat die Stadt am Rhein einiges zu bieten. Sei es die Museumsmeile, das alte Regierungsviertel, oder auch das Siebengebirge, obwohl das ja strenggenommen zu Königswinter gehört. Bonn ist und bleibt klein aber fein, wie man so schön sagt.