Blick auf die Ukraine-Krise
Wir sitzen zusammen an einem Mittwochabend in der Mensa. Alexander und Iryna sind beide gebürtige Ukrainer. Eugeny, Evgeniya und Boris kommen aus Russland. Yuriy stammt aus Weißrussland. Meine Gesprächspartner studieren Politik oder Volkswirtschaftslehre und haben sich bereit erklärt, über die Ukraine-Krise zu reden. Mein Artikel soll ihre Meinungen zu diesem Thema abbilden und meinen Kommilitonen eine Stimme geben.
Was hat die Ukraine-Krise ausgelöst, möchte ich in erster Linie wissen. War es die Ablehnung des ex-ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen? Alexander schüttelt mit dem Kopf: „Es ging bei den Protesten auf dem Maidan nicht um das Assoziierungsabkommen mit der EU. Die Mehrheit der Ukrainer wusste nicht genau, was dieses Abkommen überhaupt bedeutet.“ Es waren ein paar hundert jungen Menschen, die sich im November 2013 noch vor der geplanten Unterzeichnung des Abkommens mit der EU an Protestaktionen gegen die Regierung beteiligt hatten. Die Regierung von Janukowitsch unterdrückte die Proteste brutal und löste somit eine Wut-Welle der Bevölkerung aus. „Dieses Abkommen ist dann plötzlich zu einem Symbol geworden, zu einem Symbol für die Zukunft, für ein besseres Leben“, so Alexander. Man erklärt mir weiter, dass die wirtschaftliche Lage in der Ukraine inzwischen so miserabel war, dass es auf einmal zu einer Kettenreaktion kam. Die Proteste weiteten sich aus, das ukrainische Volk war sich mehrheitlich einig, dass das Land einen neuen Anfang braucht. Alexander betont, dass es bei dieser Krise nicht alleine um die Orientierung nach Westeuropa geht, es geht darum, dass man das Land ändern möchte. Die EU sei kein Ziel, sondern ein Mittel zum Ziel, und obwohl die Kommilitonen aus der Ukraine nicht genau wissen, was Europa einem bringen wird, sind sie sich jedoch sicher, dass man mit Russland keine Perspektive hat – mit Russland würde alles beim Alten bleiben.
Ich möchte trotzdem wissen, wie meine Gesprächspartner die Abkühlung der Beziehungen zwischen Kiew und Moskau empfinden, schließlich besteht zwischen den beiden Völkern eine besondere Verbindung. Die Antwort kommt prompt und ist eindeutig: Die Abkühlung der Beziehungen mit Russland sei eine natürliche Reaktion auf die Handlung von einem langjährigen Partner und Brudervolk. Im wichtigsten Moment hat Moskau nicht das ukrainische Volk unterstützt, sondern den korrupten Präsidenten, der von dem ganzen Land gehasst wurde. Ein Teil der Ukraine wurde besetzt und annektiert, und in einem anderen Teil des Landes würden dank dem Kreml Kriegszustände herrschen. Wie kann man unter diesen Umständen die Russische Föderation als Partnerland ansehen, fragt man empört.
Die Kommilitonen aus Russland hören aufmerksam zu, und schweigen. Ich weiß nicht, wie ich ihre Zurückhaltung interpretieren soll: als Zustimmung, stillschweigende Ablehnung? Oder ist man überrascht, wie tief der Kreml das ukrainische Volk enttäuscht hat?
Evgeniya meldet sich zwischendurch zu Wort, ich merke, dass sie die Position von Alexander und Iryna deutlich verstehen möchte. Wenn man sich einig ist, dass das Land sich ändern muss, wie soll das erfolgen? Haben die Ukrainer einen Plan? Schließlich wurde in der Runde wiederholt, dass man sich von den Beziehungen zu Russland nichts Gutes erhofft, und für den EU-Markt ist die Ukraine nicht wettbewerbsfähig. Yuriy, der gebürtige Weißrusse antwortet dazu, dass für die Ukraine kurzfristig alle Optionen schlecht seien. Geht man nach Russland, hat man keine Perspektive. Schaut man nach Europa, gibt es wenigstens langfristig eine Perspektive. Und was nützt es einem, dass die Ukrainer ihre Produktion nach Russland exportieren können, schließlich geht es um die Veränderung der Verhältnisse in diesem Land, nicht um Absatzmärkte.
Wir kommen dazu, über die Annexion der Krim zu reden. Alle drei Kommilitonen aus Russland verurteilen Moskaus Vorgehen auf der Krim. Selbst Boris, der offen zugegeben hatte, dass er sich für Politik nur wenig interessiert, war schockiert als die Krim annektiert wurde. Er kann immer noch nicht glauben, dass so etwas im 21. Jahrhundert möglich ist.
Es lässt sich in diesen Momenten deutlich spüren, wie verbittert die ukrainische Seite von diesem Ereignis ist. „Die ganze Welt hat uns in dem Moment verlassen, als die Krim annektiert wurde. Hat jemand interveniert, wo war die Welt?“ fragt Alexander und zeigt Unverständnis dafür, dass gerade der Kreml es gewagt hat, das System, das nach dem zweiten Weltkrieg herrscht, zu zerstören. Eugeny spricht dazu auch Klartext: Die Krim-Annexion ist unrechtmäßig gewesen: „Wir sollten die Krim zurückgeben, das wird aber nicht passieren, solange die Russische Föderation besteht.“
Ich frage nach, ob die Auswirkungen der politischen Spannungen zwischen den beiden Regierungen bereits auf der Völkerebene spürbar sind. Iryna nickt und bedauert gleichzeitig sehr, dass die zwei Völker sich nicht mehr mögen. Es gäbe aber nach wie vor Teile der Bevölkerung, sowohl in der Ukraine als auch in Russland, die sich nicht in einen Hasszustand treiben lassen wollen. Evgeniya betont auch, wie sehr sie sich wünscht, dass die Ukrainer und die Russen sich nicht gegenseitig hassen, auch wenn die Politik falsch ist.
Ich frage in die Runde, ob der Ton, mit dem die öffentliche Debatte um die Ukraine-Krise geführt wird, als angemessen bezeichnet werden kann. Schließlich sind Vergleiche zwischen Hitler und Putin keine Seltenheit mehr. Evgeniya zeigt sich darüber empört: „Ich möchte Putin nicht schützen, aber der Vergleich ist einfach krass. Putin tötet doch keinen.“
Wir reden über die Separatisten in der Ost-Ukraine, und die nächsten Meinungsunterschiede zeichnen sich ab. Eugeny fragt mich: „Warum nennst du sie Separatisten? Man kann sie auch Freiheitskämpfer nennen. Warum werden die Separatisten in Syrien als Freiheitskämpfer bezeichnet, aber diejenigen, die in der Ukraine für ein Stück Land kämpfen, als Terroristen dargestellt? Die Freiheitskämpfer in der Ost-Ukraine müssen auch eine Stimme haben und dürfen nicht abgeschlachtet werden.“ Ich frage nach, ob meine Gesprächspartner einverstanden sind, dass die aktuelle Regierung in Kiew mit den Separatisten nicht verhandeln möchte. Alexander erzählt, dass die Separatisten untereinander sehr gespalten seien. Es gebe niemanden, der sowohl die Bevölkerung dieser Regionen, als auch die anderen „Freiheitskämpfer“ hinter sich habe. Gleichzeitig macht der Student deutlich, dass die Regierung den Separatisten oft genug angeboten habe, die Waffen niederzulegen und den Konflikt zu beenden. „Wenn sie es bisher nicht getan haben, dann sollten die Menschen, die eine Waffe in der Hand haben, militärisch bekämpft werden, weil sie Feinde sind.“
Nach zwei Stunden setzen wir unser Gespräch im Juridicum fort – die Mensa muss schließen. Dabei sind nur noch Alexander, Eugeny und Evgeniya. Was würden sie den verantwortlichen Politikern ausrichten, möchte ich zum Schluss wissen.
Eugeny und Evgeniya sind der Meinung, dass die „Großmächte“ sich in diesen Konflikt am besten nicht einmischen sollten. Für die Ukraine wäre besser, kein Abkommen mit der EU zu unterzeichnen. Das Geld, das von der EU kommt, sei kein Geschenk, sondern es sei ein Kredit, der später mit Zinsen zurückgezahlt werde. Mit Bezug auf unsere Diskussion, zeigt sich Eugeny irritiert, dass im Laufe des Abends niemand erwähnt hat, dass die Proteste auf dem Maidan von dem Ausland finanziert wurden und dass die Kommilitonen aus der Ukraine kein Mitleid für die Kämpfer im Osten der Ukraine gezeigt haben: „Die Ukraine besteht aus zwei Völkern und es sieht so aus, als ob im Moment nur ein Teil der Bevölkerung eine Stimme hat. Das hat mit Demokratie nichts zu tun.“ Evgeniya sagt mir, dass wir im Laufe dieses Abends alles gehört haben, was wir schon tausendmal in den Nachrichten gesehen hätten. Das zeige, wie stark der Einfluss der Propaganda sei, und dass es uns mittlerweile schwer falle, alleine über dieses Thema nachzudenken. Zum Schluss betont sie, dass die Ukrainer selber entscheiden müssten, was sie wollen. Nicht zuletzt bedauert sie, dass man so viel über Politik und so wenig über die Menschen dort geredet habe.
Alexander möchte der russischen Seite ausrichten, dass sie sich für die Interessen des eigenen Volkes und des eigenen Landes einsetzen und nicht den Traum von „Großrussland“ verfolgen sollte. Die neue ukrainische Regierung, die eine große Verantwortung ihrem Volk gegenüber trägt, müsste darüber nachdenken, was sie für ihr Land machen kann – die Hoffnung der Menschen auf dem Maidan darf nicht verraten werden.
Das Krisen-Management des Westens bezeichnet Alexander als schlecht. „Das, was wir in diesem Kampf um die Ukraine sehen, das ist eigentlich eine tiefgründige Existenzkrise der EU. Diese Krise hat für mich das weitere Bestehen dieser Union infrage gestellt. Wenn die EU weiter bestehen möchte, muss sie lernen, Stärke zu zeigen. Die europäischen Politiker müssen begreifen, dass man härter durchgreifen muss, wenn man die eigenen Interessen durchsetzen möchte, auch wenn die eigenen Geschäftsleute flehen, es nicht zu tun. Stärke heißt manchmal: Verzicht auf Rendite.“
Auch das Juridicum muss inzwischen zumachen. Ich danke meinen Kommilitonen, dass sie dabei waren. Wir verabschieden uns mit Handschlag und lächeln dabei, trotz unterschiedlicher Meinungen, trotz verletzter Nationalgefühle.
Darum geht’s
Ende November 2013 kam es in Kiew zu gewaltsamen Protesten gegen die ukrainische Regierung, dessen Präsident, Viktor Janukowitsch, die Unterschreibung eines Assoziierungsabkommens mit der EU abgelehnt hatte. Die Proteste dauerten zwischen November 2013 und Februar 2014 an und erwirkten die Absetzung des Präsidenten und vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Ende Februar 2014 verlagerte sich die Ukraine-Krise auf die Halbinsel Krim als Folge des Misstrauens russischer Bevölkerung auf der Krim gegenüber der provisorischen pro-westlichen Regierung in Kiew. Nachdem bei einer Volksabstimmung auf der Halbinsel am 16. März 96,6% der Menschen für einen Russland-Beitritt gestimmt hatten, wurde die Halbinsel Krim von der Russischen Föderation annektiert. Die Ukraine, die USA und die EU betrachten das Referendum als völkerrechtswidrig und erkennen die Abspaltung der Ukraine nicht an. Im Südosten der Ukraine, in den Regionen Donezk und Lugansk kam es ebenfalls zu Konfrontationen zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Kräften. Am 25. Mai fand die Präsidentschaftswahl in der Ukraine statt, bei welcher Petro Poroschenko als Sieger hervorging. Die Auseinandersetzungen zwischen den Separatisten im Osten des Landes und der ukrainischen Armee dauern an, der neue Präsident macht sich stark für ein Ende des Konflikts. Stand: Anfang Juni 2014